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Auch im nächsten (und übernächsten) Jahr wieder gefragt:

Die Führungskräfte als Widerspruchskünstler

Zum Jahreswechsel lesen wir häufig Prognosen für das kommende Jahr. Leider ist der Blick oft von Krisen und Unsicherheiten geprägt. Die Reaktion darauf: Viele wünschen sich, Probleme einfach zu lösen oder gar zu eliminieren. Doch gerade für Führungskräfte reicht dieses „weg mit den Problemen“-Denken nicht aus. Es braucht eine andere Haltung – und eine Kompetenz, die wir als „Dilemmakompetenz“ bezeichnen.

Widersprüche in Organisationen: Unvermeidbar und wertvoll

Organisationen haben nie nur ein einziges Ziel im Fokus. Stattdessen müssen sie ständig unterschiedliche, oft widersprüchliche Anforderungen in Einklang bringen. Dazu gehört beispielsweise, fachliche Vorgaben mit den übergeordneten Interessen der Organisation zu verbinden oder Spannungen zwischen Abteilungen auszutarieren. Beispielsweise fordert die Produktentwicklung ein hohes Tempo, während das Qualitätsmanagement auf präzise Sorgfaltskriterien achtet. Diese Vielschichtigkeit macht Widersprüche zu einem unvermeidbaren Bestandteil des organisatorischen Alltags. Führungskräfte stehen vor der Herausforderung, mehrere widersprüchliche Ziele gleichzeitig zu managen und auszuhalten.

Diese Zwickmühle/ dieses Dilemma lässt sich in drei Arten einteilen und unterscheiden:

Polaritäten, Widersprüche und Paradoxien beschreiben Spannungsfelder, die Führungskräfte oft aushalten müssen. Polaritäten und Spannungsfelder gibt es zum Beispiel zwischen Abteilungen wie Vertriebs- und Finanzabteilungen. Der Vertrieb priorisiert häufig das schnelle Gewinnen von Kund*innen und Marktanteilen, indem er großzügige Preisnachlässe oder flexible Zahlungsbedingungen anbietet. Die Finanzabteilung hingegen fokussiert auf stabile Margen und die Einhaltung strikter Budget- und Liquiditätsziele, was diesen Maßnahmen entgegenstehen kann. Ein klassischer Widerspruch besteht beispielsweise darin, dass fachliche Entscheidungen nicht immer im Interesse der Gesamtorganisation sind. So kann eine medizinisch notwendige Behandlung in einem Krankenhaus mit den finanziellen Interessen der Klinik kollidieren. Und Paradoxien gibt es beispielsweise im Personalmanagement: Personalverantwortliche stehen oft vor der Aufgabe, sowohl die Bedürfnisse der Mitarbeitenden zu adressieren – etwa durch Programme zur Entstigmatisierung psychischer Belastungen – als auch die Performance der Belegschaft sicherzustellen. Diese gegensätzlichen Ziele führen zu Zielkonflikten, wie im Beispiel der Werbeagentur gezeigt. Besonders herausfordernd wird es, wenn Handlungsdruck entsteht und eine Entscheidung unausweichlich wird. In solchen Fällen spricht man von Dilemmata, die sich durch diese Zuspitzung als spezifischer Sonderfall solcher Spannungsfelder auszeichnen und folgende Merkmale haben:

  1. Aufforderung zur Gleichzeitigkeit: Entscheidungen erfordern oft, dass zwei gegensätzliche Ziele gleichzeitig verfolgt werden, gemäß “gehe nach rechts und links gleichzeitig“ (Simon, 2013).
  2. Interdependenz der Entscheidungsoptionen: Die Handlungsoptionen beeinflussen sich gegenseitig – eine Entscheidung für das eine Ziel hat immer Auswirkungen auf das andere – gemäß „Ohne Rechts gibt es kein Links“ (Drews et al., 2023)
  3. Handlungsdruck: Entscheidungen können nicht hinausgezögert werden, auch wenn es keine perfekte Lösung gibt.

Die Kombination dieser Aspekte macht Dilemmata besonders anspruchsvoll, da sie von Führungskräften verlangen, gegensätzliche Kräfte wie Widerspruch, Polaritäten und Paradoxien gleichzeitig zu managen. Dies erfordert ein tiefes Verständnis dafür, wie scheinbar gegensätzliche Ziele interagieren, eine klare Priorisierung der relevanten Spannungsfelder und die Fähigkeit, Entscheidungen auch unter Unsicherheit zu treffen. Entscheidend ist dabei nicht nur die Gegensätze zu erkennen, sondern sie als Potenziale zu begreifen, die gezielt genutzt werden können, um kreative und innovative Lösungen für komplexe Herausforderungen zu entwickeln.

Dilemmakompetenz entwickeln

Doch wie können Führungskräfte diesen Herausforderungen begegnen?
Der Aufbau von Dilemmakompetenz stützt sich auf fünf wesentliche Bausteine:

Wahrnehmung der Situation: Verstehen, dass Konflikte und Widersprüche integrale Bestandteile von Organisationen sind, sowie häufig auch emotional herausfordernd sind.

  • Zwischen welchen Handlungsmöglichkeiten oszilliere ich
    innerlich?
  • Was hält mich davon ab, mich für die eine oder andere Option zu entscheiden?
  • Vor welcher konkreten Entscheidungsfrage stehe ich?

Akzeptanz der Unlösbarkeit: Akzeptieren, dass es oft keine ideale Lösung gibt, und die Situation als Chance zur Weiterentwicklung betrachten.

  • Welche Prämissen liegen meiner empfundenen Entscheidungsunfähigkeit zugrunde?
  • Welche Prämisse bin ich bereit, wahlweise zu hinterfragen?
  • Welche Handlungsspielräume würde mir dies eröffnen, und welche erwartbaren Auswirkungen hätte dies zur Folge?

Innere Positionierung: Einen persönlichen Standpunkt finden, der sowohl den eigenen Werten als auch den Zielen der Organisation gerecht wird.

  • Was finde ich selbst richtig?
  • Wie geht es mir mit der Entscheidung?
  • Welche Werte und Prinzipien sind mir wichtig, wenn ich eine bewusste Entscheidung treffe?

Kommunikation: Eigene Entscheidungen klar kommunizieren und konstruktiv vertreten, als auch die getroffenen Entscheidungen anderer gegebenenfalls nachzuverhandeln.

  • Wie kommuniziere ich meine Entscheidungen klar und transparent?
  • Wie gehe ich mit Meinungsverschiedenheiten anderer zu meinen getroffenen Entscheidungen um?
  • Welche Strategien wende ich an, um meine Entscheidungen konstruktiv zu vertreten?

Kooperationsorientierung:  Klares Rollenverständnis und die Unterstützung einer universellen Wahrnehmung der übergreifenden Bedeutung von Dilemmata, um die Grundlage für eine solidarische Zusammenarbeit zu schaffen.

  • Wer möchte ich sein, im Kontext der Zusammenarbeit mit anderen?
  • Wie beeinflusst mein Handeln andere Teammitglieder oder Abteilungen?
  • Wie gestalte ich Kooperationen, um solidarische Lösungen zu finden?

Dilemmata gibt es also in jeder Organisation und es ist hilfreich, die Zwickmühle zwischen Entscheidungen weniger als eine Bedrohung und mehr als eine Chance zu begreifen. Die Unlösbarkeit von Dilemmata ist wohl kurzfristig herausfordernd, aber wenn man sie akzeptiert und seine eigenen Lösungsstrategien kritisch hinterfragt, kann man langfristig von einer konstruktiven Dilemmabearbeitung profitieren.

Wir wünschen Ihnen für das neue Jahr, dass es Ihnen gelingt, diese unvermeidliche Zwickmühle mit mehr innerer Gelassenheit und Orientierung zu begegnen. Denn dann ist schon viel gewonnen.

Quellen:

  • Drews, A., Born, M., Küllenberg, J., Bossmann, U., Zwack, J., Schweitzer, J. (2023). Werkzeug 74: Spielraum in der Zwickmühle. ZOE Zeitschrift für Organisationsentwicklung, 1/2023, S. 101-106.
  • Simon, F. B. (2013). Wenn rechts links ist und links rechts: Paradoxiemanagement in Familie, Wirtschaft und Politik, CarlAuer Verlag.

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